4:23 Uhr, Kilometer 127. Deine Beine brennen, der GPS-Akku zeigt nur noch 12%. Vor dir steigt der Feldweg steil an, hinter dir liegen bereits 8 Stunden im Sattel. Der Nebel kriecht durch die Bäume, dein Atem dampft in der kalten Morgenluft. Noch 673 Kilometer bis ins Ziel. In diesem Moment fragst du dich: Was zur Hölle mache ich hier eigentlich? Willkommen in der Welt der Bikepacking-Rennen – dem Abenteuer, das gerade die Outdoor-Szene revolutioniert.
Inhaltsverzeichnis
Die neue Freiheit auf zwei Rädern: Was Bikepacking-Rennen so besonders macht
Bikepacking-Rennen sind keine gewöhnlichen Radrennen. Vergiss Teamfahrzeuge, Verpflegungsstationen und vorgegebene Routen. Hier bist du Rennfahrer, Navigator und Logistiker in einem. Die Regeln sind simpel: Start- und Zielpunkt stehen fest, dazwischen liegt deine Route. Ob du nachts durchfährst oder im Biwaksack unter Sternen schläfst – deine Entscheidung.
Was diese Events so faszinierend macht? Es ist die perfekte Mischung aus sportlicher Herausforderung und purem Abenteuer. Du testest nicht nur deine körperlichen Grenzen, sondern auch deine Fähigkeit, unter Druck die richtigen Entscheidungen zu treffen. Diese Entscheidung um 2 Uhr nachts auf einem einsamen Forstweg in der Eifel: Soll ich die kürzere, aber steilere Route über den Kamm nehmen oder den Umweg durchs Tal? Wenn der Regen einsetzt und du zwischen Biwak im Wald oder teurer Pension wählen musst – 80 Euro für ein warmes Bett oder durchbeißen und das Geld sparen? Jede Wahl hat Konsequenzen für deine Gesamtzeit und dein Energielevel.
Aber bevor du von fernen Ländern träumst, lass uns über das sprechen, was diese Rennen wirklich besonders macht.
Die Community: Wettkampf mit Herz
Die Community macht den Unterschied. Während traditionelle Radrennen oft von Konkurrenzdenken geprägt sind, herrscht bei Bikepacking-Rennen ein anderer Spirit. Klar, jeder will schnell sein. Aber wenn jemand am Wegesrand mit einem Defekt steht, hält man an. Man teilt Tipps über gute Übernachtungsplätze, warnt vor schwierigen Passagen. Es ist ein Wettkampf gegen die Strecke, nicht gegeneinander.
Diese Solidarität entsteht aus geteiltem Leiden und gemeinsamer Leidenschaft. Wenn du um 3 Uhr morgens völlig durchnässt an einer Tankstelle einen anderen Fahrer triffst, entsteht sofort eine Verbindung. Ihr teilt euch die letzte warme Pizza, tauscht Geschichten über die brutalsten Anstiege aus. Diese Momente schweißen zusammen – oft entstehen Freundschaften, die weit über das Rennen hinaus halten.
Von der Taunus Bikepacking Challenge bis zur Silk Road Mountain Race
Die deutsche Bikepacking-Szene explodiert förmlich. Events wie die Grenzsteintrophy im Bayerischen Wald oder die Taunus Bikepacking Challenge ziehen mittlerweile Hunderte von Abenteurern an. Das Schöne: Du musst nicht gleich bei den Hardcore-Events einsteigen. Einsteiger-Events starten meist bei 150-250km, die Veteranen-Klasse geht bis 400km, und Ultra-Distanzen beginnen bei 600km aufwärts. Die meisten Rennen bieten mehrere Kategorien – so kann jeder auf seinem Level einsteigen.
Die beste Zeit für deutsche Events? Frühjahr (April bis Juni) und Herbst (September bis Oktober) sind ideal – nicht zu heiß, meist trocken, lange Tage. Für alpine Strecken wie die Transalp Bikepacking Challenge eignen sich Juli und August besser, wenn die Pässe schneefrei sind. Im Winter locken Events in wärmeren Gefilden wie die Atlas Mountain Race in Marokko.
Für viele ist ein deutsches Event der Einstieg in eine internationale Karriere. Die Tuscany Trail in Italien gilt als Klassiker – 530 Kilometer durch die toskanische Bilderbuchlandschaft. Wer es extremer mag, träumt vom Tour Divide (4.400 km durch die Rocky Mountains) oder der Silk Road Mountain Race durch Kirgisistan. Letztere gilt als eines der härtesten Bikepacking-Rennen weltweit: 1.700 Kilometer, 26.000 Höhenmeter, durch eine der entlegensten Regionen der Welt.
Das Verrückte dabei: Diese Events sind keine elitären Veranstaltungen für Profis. Schau dir die Starterlisten an – da findest du alles vom Studenten bis zur Rentnerin, vom Ultraathlet bis zum Hobbyfahrer. Was sie verbindet? Der Hunger nach echtem Abenteuer und die Bereitschaft, die Komfortzone zu verlassen.
Diese mentale Stärke entwickelst du aber nicht im heimischen Keller – sie wächst mit jedem gefahrenen Kilometer unter Wettkampfbedingungen.
Die Ausrüstungsfrage: Zwischen Minimalismus und Sicherheit
Bei Bikepacking-Rennen wird deine Ausrüstung zum entscheidenden Faktor. Jedes Gramm zählt, aber gleichzeitig musst du für alle Eventualitäten gerüstet sein. Die goldene Regel: So wenig wie möglich, so viel wie nötig. Ein typisches Race-Setup wiegt 3-5 kg (vs. 8-12 kg bei Tourenausrüstung). Das bedeutet: ultraleichte Isomatte (200-300g), minimalistischer Biwaksack (400-600g), Notfall-Equipment und strategisch gewählte Kleidung.
Der größte Unterschied liegt im Mindset. Während du bei einer Tour vielleicht den kleinen Campingkocher und das gemütliche Zelt einpackst, denkst du beim Rennen in anderen Kategorien. Energieriegel statt Kochausrüstung, Biwaksack statt Zelt. Viele Racer schwören auf die „Sleep-System-Strategie“: tagsüber fahren, nachts in Bushaltestellen, 24-Stunden-Tankstellen oder einfach im Wald schlafen.
Die Taschenauswahl wird zur Wissenschaft. Aerodynamik spielt plötzlich eine Rolle – große Satteltaschen sind out, schnittige Rahmentaschen und kompakte Top-Tube-Bags sind in. Veteranen packen ihr Setup so, dass sie auch während der Fahrt an alles rankommen. Nichts nervt mehr, als nachts um 3 Uhr die komplette Satteltasche ausräumen zu müssen, nur um an die Stirnlampe zu kommen.
Essentiell für die Navigation: Lade immer Offline-Karten herunter und pack eine Powerbank mit mindestens 20.000 mAh ein. Dein GPS-Gerät oder Smartphone wird dein wichtigster Begleiter – plane 10-15% Akkuverbrauch pro 100km ein. Ein Backup-Gerät oder zumindest eine ausgedruckte Notfallkarte kann den Unterschied zwischen Finish und DNF (Did Not Finish) bedeuten.
Die Kostenfrage? Rechne mit 500-1500 Euro für ein solides Race-Setup, wenn du bei Null anfängst. Gute Taschen (300-500 Euro), ultraleichtes Schlaf-System (200-400 Euro), GPS-Gerät oder Smartphone-Halterung plus Powerbanks (150-300 Euro). Dazu kommen Kleinigkeiten wie Ersatzschläuche, Multitool, Erste-Hilfe-Kit. Tipp: Fang mit gebrauchtem Equipment an und upgrade nach und nach.
Der mentale Game-Changer: Warum dich kein Training darauf vorbereitet
Lass uns ehrlich sein: Die physische Herausforderung ist nur die halbe Miete. Was Bikepacking-Rennen wirklich auszeichnet, ist der mentale Aspekt. Nach 20 Stunden im Sattel, wenn der Akku deines GPS fast leer ist, es anfängt zu regnen und du seit Stunden keine Menschenseele gesehen hast – da zeigt sich, wer du wirklich bist.
Erfahrene Racer berichten von emotionalen Achterbahnfahrten. Momente purer Euphorie, wenn du bei Sonnenaufgang einen Bergpass erreichst, wechseln sich ab mit Phasen tiefer Verzweiflung. Der Schlüsseltrick? Akzeptiere diese Schwankungen als Teil des Abenteuers. Viele entwickeln persönliche Mantras oder Strategien: alle zwei Stunden was essen, bei jedem Ortschild ein Selfie, oder einfach nur „eine Pedalumdrehung nach der anderen“.
Das Verrückte: Genau diese mentalen Herausforderungen machen süchtig. Du lernst, dass du viel mehr kannst, als du dir je zugetraut hättest. Diese Erkenntnis trägt weit über das Rennen hinaus. Viele berichten, dass sie nach ihrem ersten Bikepacking-Rennen auch im Alltag gelassener mit Herausforderungen umgehen. Wenn du 800 Kilometer in drei Tagen geschafft hast, relativiert sich die stressige Präsentation im Büro plötzlich.
Aber Vorsicht: Mit dieser neuen Perspektive kommt auch die Gefahr, alles andere als langweilig zu empfinden. Das nächste Rennen wird zur Obsession.
Was kann schiefgehen? Die Realität abseits der Instagram-Stories
Seien wir ehrlich: Nicht alles läuft nach Plan. Platter Reifen um Mitternacht, 40km zur nächsten Ortschaft – klassisch. Du hast nur zwei Ersatzschläuche dabei und der dritte Platten lässt dich verzweifeln. Oder die falsche Abbiegung, die dir erst nach 20 Kilometern auffällt und dich 3 Stunden und 500 Höhenmeter extra kostet. GPS-Ausfall im strömenden Regen, während du irgendwo im Nirgendwo stehst.
Magen-Darm-Probleme durch falsche Ernährung, Knieschmerzen ab Kilometer 300, Satteldruck, der jeden weiteren Meter zur Qual macht. Ein Sturz auf Schotter, aufgeschlagene Knie, zerrissene Kleidung. Die Unterkunft, auf die du dich gefreut hast, ist ausgebucht. Der versprochene 24h-Supermarkt hat doch nur bis 22 Uhr auf. Deine Kreditkarte wird nicht akzeptiert und das Bargeld geht zur Neige.
Diese Momente gehören dazu. Der Unterschied zwischen Finish und Aufgabe? Humor, Kreativität und eiserner Wille. Jeder erfolgreiche Bikepacker hat seine Horrorstories – und erzählt sie später mit einem Lächeln.
Dein Weg zum ersten Rennen: Praktische Schritte statt Träumerei
Schluss mit der Theorie – wie startest du konkret? Plane mindestens 12 Wochen Vorbereitung für dein erstes Rennen. Such dir ein Einsteiger-Event wie die Orbit360 Gravel Challenge oder die Grenzgänger Trophy. Moderate Distanzen (200-300km), gut organisiert, starke Community. Melde dich mindestens drei Monate vorher an – das schafft Verbindlichkeit und gibt dir einen festen Zeitrahmen.
Trainiere spezifisch, nicht nur Kilometer schrubben. Woche 1-4: Grundlagenausdauer aufbauen, 3-4x pro Woche fahren. Woche 5-8: Längere Ausfahrten (4-6 Stunden) einbauen, mit bepacktem Rad trainieren. Woche 9-11: Spezifisches Training – Nachtfahrten, Navigation üben, Ernährungsstrategie testen. Woche 12: Tapering, Ausrüstung final checken.
2-3 Testwochenenden sind Pflicht. Pack dein komplettes Race-Setup und fahre ein Testwochenende – 200 Kilometer, eine Übernachtung draußen. Du wirst merken, was funktioniert und was nicht. Zweites Testwochenende: 300+ Kilometer, bewusst schlechtes Wetter wählen. Drittes Wochenende: Generalprobe mit Wettkampf-Simulation, inklusive frühem Start und Zeitdruck.
Der wichtigste Tipp? Perfektion ist der Feind des Abenteuers. Du wirst Fehler machen – falsch abbiegen, zu wenig essen, die falsche Kleidung dabei haben. Das gehört dazu. Der Unterschied zwischen denen, die aufgeben, und denen, die ankommen? Humor und Hartnäckigkeit.
Nach dem Rennen: Wenn das normale Leben plötzlich zu langweilig wird
Das Ziel erreicht, Medal um den Hals, aber was dann? Die ersten Tage nach einem Bikepacking-Rennen sind surreal. Dein Körper braucht Erholung – plane mindestens eine Woche reduziertes Training ein. Schwimmen, leichtes Yoga, Spaziergänge. Deine Beine werden es dir danken. Ernährung: Jetzt darfst du reinhauen. Dein Körper hat Nachholbedarf – gönn dir die Pizza, das Bier, die Schokolade.
Mental ist die Umstellung oft härter als körperlich. Das „Post-Race-Blues“ ist real – plötzlich fehlt das klare Ziel, der Adrenalinkick, die Einfachheit des Unterwegsseins. Viele Finisher berichten von einer Art Entzugserscheinung. Die Lösung? Plane das nächste Abenteuer, aber gib dir Zeit zur Reflexion. Was hast du gelernt? Was würdest du anders machen?
Das Suchtpotenzial ist hoch. Aus „einmal ausprobieren“ wird schnell eine Obsession. Die WhatsApp-Gruppen füllen sich mit Diskussionen über neue Events, besseres Equipment, krassere Strecken. Binnen Wochen checkst du Startplätze für die Transcontinental Race oder träumst von der Tour Divide. Willkommen im Club – du bist jetzt offiziell infiziert.
Am Ende ist es ganz einfach: Wenn du diesen Text bis hier gelesen hast, brennt das Abenteuer bereits in dir. Die Frage ist nicht ob, sondern wann du startest. Die Bikepacking-Community wartet auf dich – mit offenen Armen und vollgepackten Rädern. Also, welches Rennen wird dein erstes?

