Ultracycling: Wenn die Grenze zwischen Mensch und Maschine verschwimmt

ultracycling durch die Wüste

Es ist 3:47 Uhr morgens, Kilometer 287 des Race Across America. Deine Beine fühlen sich an wie Blei, der Wind peitscht dir ins Gesicht, und du hast seit 18 Stunden nichts anderes gesehen als endlose Maisfelder. Trotzdem trittst du weiter in die Pedale. Willkommen in der Welt des Ultracycling – einem Sport, der nicht nur deine körperlichen Grenzen testet, sondern auch jeden Ausrüstungsgegenstand an deinem Rad bis zum Äußersten beansprucht.

Ultracycling ist mehr als nur „langes Radfahren“. Es ist eine Disziplin, die Körper und Geist an Orte bringt, von denen die meisten Menschen nicht einmal träumen. Während ein typisches Bikepacking-Abenteuer durchaus mehrtägig sein kann, bewegt sich Ultracycling in völlig anderen Dimensionen: 200 Kilometer gelten als Einstieg, 300-400 Kilometer als Standard-Distanz, alles über 1000 Kilometer als Extrembereich. Paris-Brest-Paris muss in unter 90 Stunden bewältigt werden, das Race Across America in unter 12 Tagen – oft non-stop.

Equipment-Philosophie: Weniger ist kumulativ mehr

Im Ultracycling gilt eine paradoxe Regel: Je länger die Distanz, desto weniger nimmst du mit. Das klingt kontraintuitiv, macht aber absolut Sinn, wenn du verstehst, wie sich Gewicht und Windwiderstand über hunderte von Kilometern kumulativ auswirken.

Stell dir vor, du schleppst 500 Gramm zusätzliches Gewicht über 1000 Kilometer. Das entspricht nicht nur 500 Kilogramm-Kilometern zusätzlicher Arbeit, sondern auch ungezählten Watt-Stunden gegen den Windwiderstand. 500 Gramm zusätzliches Gewicht bedeuten 15-20 Watt mehr Tretleistung über die gesamte Distanz. Bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 25 km/h über 40 Stunden bedeutet das leicht 2-3 zusätzliche Stunden Fahrzeit.

Deshalb setzen Ultracycler auf minimalistische, aber hochfunktionale Lösungen. Eine Apidura Racing Top Tube Pack (1,0L) ersetzt drei separate Snack-Taschen am Oberrohr. Eine Revelate Designs Mag-Tank am Oberrohr fasst zwar nur das Nötigste, aber sie stört weder die Aerodynamik noch das Fahrverhalten. Die Ortlieb Saddle-Bag Two wird nicht gewählt, weil sie besonders groß ist, sondern weil sie auch bei 80 km/h Abfahrt bombenfest sitzt und dabei aerodynamisch optimiert ist.

Interessant wird es bei der Verpflegungsstrategie: Während Bikepacker oft einen Kocher und warme Mahlzeiten schätzen, lebt der Ultracycler von dem, was er unterwegs kaufen kann. Das bedeutet: Kein Kochzeug, keine Konserven, stattdessen maximal eine kleine Notreserve und die Fähigkeit, aus Tankstellen-Sortimenten überlebensfähige Nahrung zu organisieren.

Die mentale Transformation: Warum normale Fahrrad-Logik hier nicht funktioniert

Der größte Fehler, den Einsteiger im Ultracycling machen, ist die Annahme, dass sie einfach ihre bewährte Bikepacking-Ausrüstung nehmen können. Das klappt etwa so gut wie der Versuch, mit Wanderschuhen einen Marathon zu laufen – theoretisch möglich, praktisch eine Katastrophe.

Bei einem 400-Kilometer-Brevet wie Paris-Brest-Paris geht es nicht darum, gemütlich die Landschaft zu genießen. Hier zählt jedes Gramm, jede Sekunde Zeitverlust beim Halt, jede aerodynamische Optimierung. Dein Mindset verschiebt sich von „Was brauche ich für den Komfort?“ zu „Was ist absolut unverzichtbar für das Überleben?“

Diese mentale Transformation beginnt bereits bei der Ausrüstungsauswahl. Während du beim entspannten Bikepacking vielleicht eine geräumige Lenkertasche für Snacks und Kamera mitnimmst, wird beim Ultracycling jeder Zentimeter daraufhin bewertet, ob er dich schneller oder langsamer macht. Eine Apidura Racing Bolt-On Top Tube Bag ersetzt plötzlich drei verschiedene Taschen – nicht weil sie schöner aussieht, sondern weil sie dir wertvolle Sekunden beim Zugriff auf Energieriegel spart.

Die versteckten Killer: Was dich wirklich aufhält

Doch selbst die perfekte Gewichtsoptimierung hilft nicht gegen die wahren Stolperfallen des Ultracycling. Nach 200 Kilometern im Sattel wirst du eine schmerzhafte Wahrheit lernen: Es sind nicht die großen Ausrüstungsentscheidungen, die dich zum Aufgeben zwingen, sondern die kleinen, scheinbar unwichtigen Details.

Die Satteltasche, die bei deiner letzten 100-km-Tour perfekt saß, beginnt nach 8 Stunden rhythmisch gegen deine Oberschenkel zu schlagen. Das Multi-Tool, das du so praktisch findest, drückt durch die dünne Trikottasche gegen deine Rippen. Die Trinkflasche, die normalerweise völlig ausreicht, reicht plötzlich nicht mehr, weil du bei 35°C durch die Prärie fährst und die nächste Wasserquelle erst in 80 Kilometern kommt.

Erfahrene Ultracycler entwickeln deshalb eine beinahe obsessive Aufmerksamkeit für Reibungspunkte – sowohl körperlich als auch mental. Sie testen ihre komplette Ausrüstung bei mehrstündigen Trainingsfahrten unter verschiedensten Bedingungen. Eine Ortlieb Saddle-Bag Two mit Anti-Sway-System verhindert das Pendeln, ein Spurcycle Bell ersetzt nervige Multi-Tool-Klappern. Eine Restrap Frame Bag wird nicht nur darauf geprüft, ob sie alles fasst, sondern auch ob sie nach 12 Stunden Dauerregen noch dicht ist und ob das Reißverschluss-Geräusch bei jeder Pedalbewegung nervt.

Das Perfide: Diese kleinen Probleme summieren sich kumulativ. Ein leichtes Scheuern wird nach 400 Kilometern zur offenen Wunde. Ein minimal nerviges Geräusch wird zum psychischen Folterinstrument. Ein schlecht positionierter Zugriffswinkel kostet dich hunderte von wertvollen Sekunden über die Gesamtdistanz.

Schlafstrategie: Die dunkle Kunst des power napping

Hier offenbart sich der vielleicht größte Unterschied zwischen entspanntem Bikepacking und Ultracycling: die Einstellung zum Schlaf. Während du beim mehrtägigen Abenteuer abends gemütlich dein Zelt aufschlägst und acht Stunden schlummerst, wird Schlaf beim Ultracycling zu einer strategischen Waffe.

Professionelle Ultracycler perfektionieren die Kunst des „power napping“ – 20-90 Minuten Schlaf an strategisch gewählten Punkten, die mehr Energie zurückgeben als sie kosten. Das bedeutet: Keine schweren Zelte, keine aufwändigen Schlafsysteme. Stattdessen eine ultraleichte Notfall-Bivvy, die in eine kleine Rahmentasche passt, oder sogar nur eine Rettungsdecke.

Die Realität sieht oft so aus: Du findest einen geschützten Platz – offizielle Rastplätze, 24h-Tankstellen oder Bushaltestellen mit Beleuchtung –, legst dich für 45 Minuten hin, stellst drei verschiedene Wecker und hoffst, dass du danach mehr Energie hast als vorher. Diese Rechnung geht nur auf, wenn du wirklich schnell einschlafen kannst und deine Ausrüstung tatsächlich funktioniert.

Viele unterschätzen auch die psychologische Komponente: Nach 300 Kilometern im Sattel fühlt sich jeder horizontale Moment wie Luxus an. Die Versuchung, „nur noch 10 Minuten“ liegenzubleiben, kann dich Stunden kosten oder sogar das komplette Event ruinieren.

Navigation unter Extrembedingungen: Wenn das GPS versagt

Um 2 Uhr nachts, nach 20 Stunden im Sattel, mit zitternden Händen und vernebeltem Hirn: Genau dann entscheidet sich, ob deine Navigationsstrategie ultracycling-tauglich ist oder nicht. Nach 18+ Stunden Fahrzeit versagt die Konzentration für komplexe Navigation. Die meisten Hobby-Radfahrer verlassen sich heute vollständig auf ihr Smartphone oder GPS-Gerät. Im Ultracycling ist das ein Rezept für Katastrophen.

Batterien leeren sich, Displays werden bei Dauerregen unlesbar, GPS-Signale verschwinden in dichten Wäldern oder engen Tälern. Gleichzeitig hast du weder die Zeit noch die mentale Kapazität für komplexe Problemlösungen. Deshalb schwören erfahrene Ultracycler auf redundante Systeme: GPS-Gerät UND Smartphone UND laminated paper backup UND grobes Streckenwissen im Kopf.

Aber auch hier gilt das Minimalprinzip: Keine schweren Kartensammlungen, sondern intelligent vorbereitete Notfall-Informationen. Viele drucken kritische Wegpunkte auf wasserfeste Klebezettel und bringen sie direkt am Oberrohr an. So hast du auch bei komplettem Elektronik-Ausfall noch die wichtigsten Abbiegungen verfügbar, ohne in Taschen wühlen zu müssen.

Die Wahrheit über Ultracycling: Warum normale Menschen es trotzdem lieben

Nach allem, was du bis hier gelesen hast, fragst du dich wahrscheinlich: Wer macht sich das freiwillig an? Die Antwort ist überraschend: normale Menschen wie du und ich. Keine Superhelden, keine Masochisten, sondern Leute, die entdeckt haben, dass ihre Grenzen viel weiter liegen, als sie je gedacht hätten.

Das Geheimnis liegt in der Vorbereitung und der richtigen Erwartungshaltung. Du musst nicht beim Race Across America starten. Starte mit einem 200km-Brevet der Audax-Vereinigung oder einem lokalen 12-Stunden-Rennen. Ein 200-Kilometer-Brevet ist bereits ein gewaltiges Abenteuer und für die meisten völlig ausreichend, um zu verstehen, worum es beim Ultracycling wirklich geht: um die Entdeckung deiner eigenen Grenzen und die Erfahrung, dass du mehr schaffst, als du für möglich gehalten hast.

Baue systematisch auf: 100km → 200km → 300km → 400km über mehrere Monate. Diese progressive Steigerung ermöglicht es deinem Körper und Geist, sich an die extremen Anforderungen zu gewöhnen, ohne dich zu überfordern.

Dein Einstieg ins Ultracycling: Konkrete nächste Schritte

Bei Bike-Packing.de verstehen wir diese Faszination. Unsere Ausrüstung wurde nicht nur für entspannte Bikepacking-Touren entwickelt, sondern auch für die Momente, in denen du an deine absoluten Grenzen gehst. Beginne mit unserem Ultracycling-Starter-Set: Rahmentasche, Satteltasche und aerodynamische Trinkflasche – die drei Essential-Components für deinen ersten Ultracycling-Versuch.

Wenn du bereit bist, deine eigenen Grenzen zu erkunden: Das Münsterland-Giro 333km oder der Harz-Klassiker 250km eignen sich perfekt als erste Ultracycling-Challenge. Beide Events bieten die ideale Mischung aus landschaftlicher Schönheit und ultracycling-typischen Herausforderungen, ohne dich gleich ins kalte Wasser zu werfen.

Von Matthias Hensel

Matthias Hensel Gründer Bikepacking

Matthias ist der Gründer vom Bike-Packing Shop. Aus Leidenschaft für Radreisen und minimalistisches Reisen hat er den Shop gegründet, um Radfahrern die beste Auswahl an Bikepacking- und Fahrradzubehör zu bieten. Mit viel Erfahrung auf Tour achtet er darauf, nur durchdachte, zuverlässige und praxiserprobte Produkte ins Sortiment aufzunehmen.